Arzneimittel haben ein Haltbarkeitsdatum, Lebensmittel ein Mindesthaltbarkeitsdatum. Was genau unterscheidet die beiden?

Ein Lebensmittel kann nach erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatum möglicherweise noch weiterhin verwendet werden, wenn es nicht verdorben ist. Lebensmittel in Dosen, die entsprechend gelagert werden, sind durchaus noch Jahre nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums genießbar. Joghurt und Milch können problemlos auch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums noch konsumiert werden, solange sie nicht faul riechen und sich die Verpackungen nicht aufwölben, was auch schon einmal bis zu einer Woche der Fall sein kann. Ein aufblähen der Verpackung wäre ein Hinweis auf gasbildende Bakterien, die die Lebensmittel verderben.

Wie aber verhält es sich bei Arzneimitteln? Können Sie eine Tablette noch einnehmen, wenn das auf der Packung aufgedruckte Haltbarkeitsdatum bereits überschritten wurde? Was kann ich Ihnen als Arzt empfehlen?
Im Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz – AMG) § 11 Packungsbeilage ist unter Absatz 1, Punkt 6 zu lesen was die Packungsbeilage enthalten muß. Hier heisst es: “(…) einen Hinweis auf das auf der Verpackung angegebene Verfalldatum sowie a) Warnung davor, das Arzneimittel nach Ablauf dieses Datums anzuwenden, (…)”
Somit kann ich Ihnen natürlich keinesfalls empfehlen, ein Arzneimittel, dessen Haltbarkeitsdatum überschritten wurde, weiterhin zu benutzen. Das Haltbarkeitsdatum bei Arzneimitteln ist das Datum, ab dem es nicht mehr verwendet werden darf. Wenn also beispielsweise auf der Packung 05/23 steht, dann darf das Arzneimittel bis zum letzten Tag des aufgedruckten Monats verwendet werden, also bis zum 31.05.2023.
Aber macht es wirklich so viel Sinn, dass ein Arzneimittel von der einen Sekunden (31.05.2023, 23:59:59) auf die andere Sekunden (01.06.2023, 0:00:00) plötzlich so schlecht wird, dass man es nicht mehr verwenden kann?

Gerade in Zeiten von Lieferengpässen und Versorgungslücken mit Arzneimitteln ist das Thema der Haltbarkeit von Arzneimitteln auch über das aufgedruckte Haltbarkeitsdatum hinaus ein nicht zu vernachlässigender Aspekt. Nicht nur bei Comirnaty, dem mRNA Impfstoff gegen einen schweren, individuellen Covid-19 Verlauf, wurde das Haltbarkeitsdatum überraschend und ohne entsprechende Erkenntnisse aus Studien zu haben, verlängert. Hier ist jedoch davon auszugehen, dass es zu dem damaligen Zeitpunkt keine wirklichen Lieferengpässe und Versorgungslücken gegeben hat, die zu einem plötzlich und überraschenden längeren Haltbarkeitsdatum geführt haben. Anders sieht bzw. sah das bei Fastjet 300 (ein Notfallmedikament, das Adrenalin enthält) aus. Hier hat das BfArM mit Schreiben vom 10. Sept. 2018 mitgeteilt, dass die entsprechenden Autoinjektoren statt 20 Monate 24 Monate lang haltbar sind. Ebenso wurde von Actilyse (ein Medikament, welches Blutgerinnsel auflösen kann), die Haltbarkeit von 24 auf 36 Monate erhöht. Das Haltbarkeitsdatum von Dacepton (ein Medikament zur Behandlung von an M. Parkinson erkrankten Patienten), wurde pauschal um 6 Monate erhöht.
Eins ist allen Haltbarkeitsverlängerungen gleich, sie erfolgten ohne neue Erkenntnisse zu den tatsächlichen Haltbarkeiten von Medikamenten.

Aus möglicherweise nachvollziehbaren Gründen haben Hersteller von Arzneimitteln kein größeres Interesse daran, Studien über die Haltbarkeit von Arzneimitteln über einen längeren Zeitpunkt als maximal 5 Jahre vorzulegen und durchzuführen. Auch über die Wirksamkeit von bereits abgelaufenen Arzneimitteln gibt es keine Studien, die die Hersteller durchgeführt hätten. Üblicherweise beträgt die Haltbarkeit von Arzneimitteln längstens 5 Jahre, häufig auch kürzer. Hier laufen Überlegungen der Hersteller aus Kosten- und Marketinggesichtspunkten ein. 

Interessant ist aber, dass die angegebenen Haltbarkeitsdaten möglicherweise jahrelang oder gar jahrzehntelang überzogen werden könnten, wenn man es untersuchen würde. Zwei, möglicherweise extreme, Beispiele mögen dieses verdeutlichen.
In Morphinampullen, die 25 Jahre alt waren, konnte noch rund 90% des ursprünglichen Wirkstoffes nachgewiesen werden (Die Abteilung Pharmazie – Zentrale Arzneimittel- und Medizinprodukte­untersuchung in der Bundeswehr).
In Lasix- und Novalginampullen (ein Medikament, welches zur Entwässerung eingesetzt wird und ein Schmerzmittel), konnten nach 53 Jahren noch annähernd 100% des Wirkstoffes nachgewiesen werden (A systematic review of the stability of finished pharmaceutical products and drug substances beyond their labeled expiry dates).

Interessant bei beiden Medikamenten ist, dass es sich um Lösungen in Ampullen handelt. Intuitiv würde man möglicherweise denken, dass diese noch eher als Tabletten zerfallen und damit unwirksam werden.
Was nicht untersucht wurde, war, ob es nicht nur zu keinem Wirkstoffverlust kam sondern ob sich möglicherweise toxische Substanzen gebildet haben, die den Einsatz der seit sehr langem abgelaufenen Medikamente verhindern würden, was ich persönlich jedoch eher nicht vermute.

Wie auch immer. An allen Ecken und Enden wird derzeit über die Lieferengpässe und Versorgungslücken von Arzneimitteln gesprochen und aus dem Bundesgesundheitsministerium kommen darüber hinaus ständig neue Vorschläge, wie zukünftig Krankenhäuser und das Gesundheitssystem insgesamt besser finanziert werden könnten.
2021 wurden durch die gesetzlichen Krankenversicherungen 46,6 Mrd. € für Medikamente ausgegeben
(Daten zum Gesundheitswesen: Arzneimittel). Sicherlich wurde ein Großteil dieser Medikamente auch aufgebraucht. Aber hilfreich wäre es, auch unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit, wenn insgesamt das Thema Haltbarkeit von Arzneimitteln mehr in der Blickpunkt gelangen würde, denn scheinbar sind diese deutlich länger haltbar als gedacht und hier könnten kurzfristig Einsparpotentiale ohne große Anstrengungen erzielt werden.