Worum es geht

Bringen neue Medikamente grundsätzlich einen Mehrwert für die Patienten?

Folgt man den forschenden Pharma-Unternehmen, so sind neue Medikamente mit großer Hoffnung verbunden, schwere Erkrankungen wie beispielsweise Krebs heilen oder zumindest lindern zu können. (1)

2023 wurden insgesamt 32 neue Wirkstoffe in Deutschland zugelassen, von denen bereits nach kurzer Zeit zwei wieder vom Markt genommen wurden. Hierbei handelt es sich um einen Coronaimpfstoff und ein Medikament, welches bei einer Psoriasis eingesetzt wurde. (2)

Andererseits ist zu lesen, dass neue Medikamente kaum einen medizinischen Fortschritt bringen (3) oder jedes zweite Medikament sogar überflüssig ist (4).

Wie verhält es sich nun mit neuen Medikamenten? Sind diese in der Tat überflüssig und bringen keinen Nutzen oder sind es hilfreiche Hoffnungsträger?

Was gemacht wurde

In England wurden retrospektiv in den Jahren 2000 – 2020 durch das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) 332 Medikamente analysiert, hinsichtlich deren potenzieller gesundheitlicher Nutzen und der wirtschaftlichen Effizienz. 276 (83%) der untersuchten Medikamente haben zuvor eine positive Empfehlung bezüglich der Nutzenbewertung erhalten. Schlussendlich flossen in die Analyse, nach Anwendung der Ausschlusskriterien, 183 Medikamente ein.

Zur Quantifizierung des gesundheitlichen Nutzens und der Kosten pro gewonnenem Lebensjahr wurden die qualitätsadjustierten Lebensjahre (QALYs) berechnet und analysiert. Im Anschluss daran wurden die QALYs mit den hypothetisch gewonnenen QALYs des NHS (Anm.: englisches Gesundheitssystem) verglichen, wenn die hier bereits vorhandenen Ressourcen genutzt worden wären. (5)

Was heraus kam

Schätzungsweise haben 19,82 Mio. Patienten im analysierten Zeitraum neue, vom NICE empfohlene, Medikamente erhalten. Hierdurch entstanden Mehrausgaben für das NHS in Höhe von 75,1 Mrd. £. Die Mehrausgaben entfielen im Wesentlichen auf neue Immuntherapeutika und Krebsmedikamente.

Die qualitätsadjustierten Lebensjahre betrugen im Median 0,49, was dem Zugewinn eines halben Lebensjahres bei voller Gesundheit entspricht. Die gleichzeitig errechneten Kosten pro QALY stiegen von zuvor 21.545 £ auf 28.555 £. Daraus ergibt sich unter dem Strich ein Nettoverlust von ca. 1,25 Mio. £. Zwar wurden durch neue Medikamente ca. 3,75 Mio. QALYs gewonnen. Wären die aufgewendeten 75,1 Mrd £, die die Mehrausgaben durch den Einsatz neuer Medikamente darstellen, in bereits vorhandene Ressourcen geflossen, so wären hierdurch schätzungsweise 5 Mio. QALYs generiert worden.

Große Unterschiede ergaben sich jedoch indikationsbezogen. So haben neue Medikamente vor allem in der Onkologie und Immunologie zu einem Nettoverlust geführt, was den sehr hohen Kosten neuer Medikamente in diesem Bereich geschuldet ist. Andererseits zeigte sich im Bereich der Antiinfektiva und anderer Anwendungsbereiche ein positives Ergebnis, jedoch vermögen diese Bereiche die, erfahrungsgemäß extrem hohen Kosten in der Onkologie und Immunologie nicht aufzufangen.

Was geschlussfolgert wurde

Die Entscheidungen des NICE über neue Medikamente haben über alle Indikationen hinweg zu einem Nettoverlust geführt, das heißt, es wurde mehr Gesundheit verdrängt als geschaffen.

Individuelle positive Effekte im Bereich der Onkologie und Immuntherapeutika traten zwar auf, auf Bevölkerungsebene sind diese Effekte jedoch negativ.

Daher sollte das NICE seinen Bewertungsansatz für die Empfehlung neuer Medikamente ändern. Außerdem sollten die Opportunitätskosten sowie das Hinterfragen der Priorisierung bestimmter Patientengruppen, insbesondere in der Onkologie, erfolgen.

Wo sich Schwierigkeiten ergeben

Es handelt sich um eine Untersuchung aus Großbritannien. Da hier ein staatliches Gesundheitssystem besteht, die Kosten nicht mit denen in anderen Ländern zwingend vergleichbar sind und Zulassungen neuer Medikamente anders geregelt sein können, sind die Ergebnisse nicht ohne Weiteres zu übertragen. Um welche Medikamente es sich konkret handelt, ist aus der Veröffentlichung nicht erkennbar, da diese nicht aufgeführt werden. Möglicherweise sind diese Medikamente in anderen Ländern nicht zugelassen, weshalb ein Vergleich schwierig ist. Ebenso wird allgemein in der Veröffentlich nur davon gesprochen, wenn die aufgewendeten Kosten für neue Medikamente in vorhandene Ressourcen des NHS geflossen wären, wäre das Kosten-Nutzen-Verhältnis ein anderes, positiveres gewesen. Welche Ressourcen das konkret sind, ist nicht ersichtlich. Möglicherweise sind die Ressourcen in anderen Ländern anders verteilt oder werden in der Form wie es in Großbritannien erfolgt, nicht vergleichbar vergütet.

Was zu diskutieren ist

Immer wieder führen solche Analyse zu der Diskussion, was darf Gesundheit kosten. Besonders teure Tumor- und Immuntherapeutika führen zwar individuell möglicherweise zu einem positiven Effekt, bezogen auf die gesamte Bevölkerung zeigen sie jedoch einen Nettoverlust. Lohnt es sich dann nicht, den Einzelnen nur individuell zu betrachten und verbietet sich hierdurch die Gesamtbevölkerungssichtweise? Dieses fängt bereits bei deutlich niederpreisigen Therapien und Angeboten an. Zwar mag der Individuelle von Chirotherapie, Osteopathie und Homöopathie profitieren, wodurch sich bei dem Individuum ein positiver Effekt einstellt, bezogen auf die Bevölkerung kann jedoch kein positiver Nutzen nachgewiesen werden. Daher werden entsprechende Therapien nicht von der Allgemeinheit im Rahmen der Solidaritätsversicherung durch die gesetzliche Krankenversicherung übernommen.

Sollten dennoch nicht gerade im Bereich der Onkologie und der Immuntherapie, bei der es nicht um chronische Rückenschmerzen, Allergien, Schnupfen, Fieber und entsprechend „banale“ Erkrankungen geht, sondern um lebensbedrohliche Erkrankungen, die Kosten weniger deutlich im Vordergrund stehen als es durch die Analyse geschehen ist? Wenn die individuellen Betrachtungen mehr in den Vordergrund gerückt werden, müsste dann nicht konsequenterweise auch eine Abkehr vom Solidaritätsprinzip, hin zu einem Äquivalenzprinzip, vollzogen werden?

Eine retrospektive Analyse von 332 Medikamenten in England wurde in den Jahren 2000 – 2020 hinsichtlich deren potenzieller gesundheitlicher Nutzen und der wirtschaftlichen Effizienz analysiert. Nach Anwendung der Ausschlusskriterien verblieben 183 Medikamente in der Analyse.

Analysiert wurden die qualitätsadjustierten Lebensjahre (QALYs), die durch die neuen Medikamente im betrachteten Zeitraum hervorgerufen wurden.

Die Mehrausgaben für das britische Gesundheitswesen betrugen in den Jahren 2000 – 2020 für ca. 19,82 Mio. Patienten 75,1 Mrd. £. Ausgelöst wurden diese Mehrausgaben im Wesentlichen durch neue Immuntherapeutika und neue Krebsmedikamente.

Der Einsatz neuer Medikamente hatte einen Gewinn der qualitätsadjustierten Lebensjahre von 6 Monaten bei voller Gesundheit erbracht. Hierfür mussten jedoch 75,1 Mrd £ aufgewendet werden.

Durch die Nutzung vorhandener Ressourcen in Höhe von 75,1 Mrd. £, wäre schätzungsweise ein Mehrgewinn von 5 Mio. QALYs erbracht worden. Somit ergibt sich ein Nettoverlust von ca. 1,25 Mio £ durch den Einsatz neuer Medikamente.

Große Unterschiede in den Kosten ergaben sich zwischen der Onkologie und Immunologie einerseits, wo die Medikamentenkosten neuer Medikamente sehr hoch sind und andererseits den Antiinfektiva und weiterer Medikamente, wo sich ein positiver Netto-Gesundheitseffekt ergab. Unter dem Strich bleibt jedoch ein Nettoverlust vorhanden, da die positiven Effekte der Antiinfektiva den Nutzen in der Onkologie und der Immuntherapeutika nicht aufwiegen können.

Neue Medikamente führen, über alle Indikationsgebiete zusammengenommen, zu einem Gesundheitsverlust.

 

Quellennachweise

(1) https://www.vfa.de/de/podcasts/neue-medikamente-2024

(2) https://www.pharmazeutische-zeitung.de/es-haetten-mehr-neue-arzneimittel-sein-koennen-144418/

(3) https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/neue-medikamente-nur-die-wenigsten-bringen-mehr-nutzen-a-962198.html

(4) https://www.oekotest.de/gesundheit-medikamente/Ernuechternder-Befund-Jedes-zweite-neue-Medikament-ist-ueberfluessig_10746_1.html

(5) org/10.1016/S0140-673(24)02352-3

 

Der nächste Beitrag erscheint am 15. Oktober. Er beschäftigt sich mit dem Einfluss des Gehens und der -intensität auf chronische Rückenschmerzen.